
In Deutschland ist Francesco Mastriani (1819–1891) praktisch unbekannt. Dabei hat er weit über 100 Romane geschrieben: ein Vielschreiber, Verfasser von Serienliteratur, die mit dem an künstlerischer Autonomie ausgerichteten zeitgenössischen Kunstverständnis schwer in Einklang zu bringen war – schon gar nicht mit den höheren Sphären des transitorischen Schönen, das der Pariser Großstadtdichter Charles Baudelaire zeitgleich als Ideal der modernen europäischen Literatur beschwor. Mastriani lebte und starb in Neapel, das in der ersten Jahrhunderthälfte wie Paris eine halbe Million Einwohner hatte und seinerzeit ein europäischer ‚Hotspot‘ war. Aber Mastrianis Zugang zu den Lebenswelten des 19. Jahrhunderts war ein anderer. Er feilte nicht an Sprachkunstwerken, sondern saugte die erzählträchtige Vielfalt lokaler wie internationaler Milieus und Geschichten, ihre Gerüche und Distinktionen, die parlata dialettale ebenso wie die europäischen Fremdsprachen, die Verbrecher, Lebedamen und höheren Töchter eher wie ein Balzac auf und verarbeitete sie in unterschiedlichsten Formen des Romans: im Schauerroman, im ersten Kriminalroman der italienischen Literaturgeschichte, im historischen Roman und nicht zuletzt in veristischen Elendsromanen, um nur die wichtigsten Ausprägungen zu nennen. Mastrianis enzyklopädisches Gesamtwerk verdichtet sich in der Summe zu einer commedia umana seiner Epoche. Im Rahmen dieser Internationalen Online-Tagung werden die facettenreichen Aspekte dieser menschlichen Komödie all’italiana von ausgewählten Fachleuten erläutert und zur Diskussion gestellt.